Eine Offshore Windkraftanlage© T. Abraham

Viel zu tun auf hoher See

von Joachim Kläschen

Etwa 1.600 Offshore-Windenergieanlagen mit einer Gesamtkapazität von 8,8 Gigawatt stehen gegenwärtig vor den deutschen Küsten in Nord- und Ostsee. Im Jahr 2023 erzeugten sie insgesamt 23,5 Terrawattstunden grünen Strom. Allein die von den Offshore-Windenergieanlagen vor den Küsten Schleswig-Holsteins erzeugte Energie reicht aus, knapp die Hälfte des Strombedarfs des Bundeslandes zudecken. Nimmt man die Energie hinzu, die im Land mittels Onshore-Anlagen, Solarparks und Biomasse gewonnen wird, könnte sich Schleswig-Holstein komplett über erneuerbare Energieträger versorgen. Und tatsächlich ist Schleswig-Holstein seit Jahren ein Strom-Exporteur. Besteht hierzulande für die Stromversorgung also schon jetzt kein Bedarf mehr an fossilen Energieträgern wie Erdgas, Erdöl, Kohle – deren Verwendung das Klima aufheizt? Klimaziele erreicht? Mitnichten!

„Die Realität ist leider etwas komplexer als die theoretische Differenz aus Erzeugung und Verbrauch“, schmunzelt Dr.-Ing. Christian Keindorf vom Fachbereich Maschinenwesen der FH Kiel. Der Professor für Erneuerbare Offshore Energien sollte es wissen, denn seit knapp zehn Jahren ist er öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger. Er berät das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, wenn es um Tragkonstruktionen von On- und Offshore-Windenergieanlagen geht. Er war in Vorhaben von Stromnetzbetreibern und Windparkplanern involviert. Wenn sich andere bei einer Überlandfahrt an den Schafen erfreuen, macht er sich Gedanken darüber, auf welchen Wegen die Schwertransporter wohl die 70 Meter langen Rotorblätter in die Kooge gebracht haben. Er weiß um die großen Pläne und die Herausforderungen, die mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien einhergehen.

Weil mit viel Wind viel Verantwortung kommt, soll Schleswig-Holstein auf hoher See durch Windenergie grünen Strom für die Republik erzeugen. Und weil man gemeinsam mehr erreicht, haben sich am 24. April 2024 neun europäische Staatschefs in der belgischen Hafenstadt Ostende darauf verständigt, dass bis zum Jahr 2030 in der Nordsee mindestens 120 Gigawatt Nennleistung über Offshore-Windenergie erzeugt werden sollen; bis 2050 sollen es dann mindestens 300 Gigawatt Nordsee-Offshore-Windenergie sein. In sechs Jahren in Europa von aktuell rund 34 auf 120 Gigawatt zu kommen ist ein sportliches Ziel. Die 300 Gigawatt für 2050 sind nicht minder ambitioniert. „Die Planung, der Bau und die Installation der Windenergieanlagen der Multi-Megawatt-Klasse, die diese Leistung erbringen sollen, sind allerdings nur ein Teil der Herausforderung“, weiß Keindorf.

Aus dem Himmel in die Steckdose

Um die Herausforderung zu begreifen, braucht man ein grundsätzliches Verständnis dafür, welchen langen Weg der grüne Strom aus Nordseewind bis zur Steckdose zurücklegen muss.

Am Anfang des Weges stehen Offshore-Windenergieanlagen. „Diese Anlagen erzeugen, in Abhängigkeit von der Wetterlage, fast kontinuierlich Wechselstrom. Da die Anlagen bislang noch keine Möglichkeit zur Speicherung haben, wird der Strom durch ein Seekabel abgeleitet“, erklärt Keindorf. Die Anlagen stehen in der Regel nicht allein in den Wellen, sondern in Gruppen zu mitunter 50 oder 60 Anlagen in Windparks. Die Seekabel führen den Strom von den Parks zu sogenannten Konverter-Plattformen.

Trotz ihrer Länge von etwa 70 Metern, einer Breite von rund 35 Metern und einer Höhe von etwa 30 Metern wirken die Kolosse auf hoher See neben den gewaltigen Windenergieanlagen eher unscheinbar. Die Bauwerke sehen aus wie kastenförmige Hallen. Die Tragstruktur des 20 Meter aus dem Wasser ragenden Stahlgerüsts, das die Plattform über die Wellen hebt, ist mit Pfählen im Meeresboden verankert. Und weil es sich für solche Offshore-Bauwerke so gehört, haben Konverter-Plattformen auch einen Hubschrauberlandeplatz.

„Konverter-Plattformen erfüllen zwei wichtige Aufgaben“, fährt Keindorf fort. „Zum einen wird hier Wechselstrom in Gleichstrom umgewandelt. Zu anderen wird die Spannung von 33 beziehungsweise 66 auf 525 Kilovolt transformiert.“ Dafür ist viel technisches Know-how erforderlich, aber der Kosten- und Zeitaufwand lohnt sich: Durch die Hochspannungs-Gleichstromtechnik lassen sich während des weiteren Transportweges Verluste in den Exportkabeln verringern.

Der weitere Weg führt den gebündelten Hochspannungs-Gleichstrom (High-Voltage Direct Current – HVDC) durch Exportkabel an Land wieder in Konverterstationen. Diese wandeln ihn zurück in Wechselstrom und überführen ihn in überregionale Verteilnetze. Abnehmer für diesen Strom der Hochspannungsebene sind industrielle Großabnehmer, wie beispielsweise Aluhütten, Stahlgießereien oder Chemiewerke.

Über Umspannwerke fließt der Strom dann auf Mittelspannungsebene – zwischen 3.000 und 30.000 Volt – in regionalen Verteilnetzen an gewerbliche Abnehmer mit Starkstromanschluss. In der Kommune schließlich geht es über weitere Trafostationen noch einmal runter: Durch die unterste Spannungsebene – lokale Verteilnetze – des Stromnetzes fließt Niederspannung; 220 bis 440 Volt, die von Haus zu Haus geführt werden.

Mehr Strom, mehr Herausforderung

Der 300-Gigawatt-Plan der Nordsee-Anrainer stellt die Industrie vor große Herausforderungen. Viele weitere Windenergieanlagen werden erforderlich sein, meint Keindorf. „Die ersten Nordsee-Windparks sind bereits sehr alt. Nach etwa 20 bis 25 Jahren Laufzeit stellt sich für die Betreiber die Frage, ob eine Anlage zurückgebaut wird oder ein Weiterbetrieb beantragt werden soll.“ Doch auch wenn der Return of Investment längst erfolgt ist, ist ein Repowering für Betreiber mit langem Atem nicht lohnend. „In zwei Jahrzehnten hat sich bei der Technologie für Windturbinen sehr viel getan. Während die 20 Jahre alten Anlagen lediglich etwa ein Megawatt Nennleistung haben, sprechen wir bei der aktuellen Turbinenklasse von 15 Megawatt pro Anlage“, weiß der Professor für Erneuerbare Offshore Energien. Über den Daumen geschätzt, versorgt eine solche Offshore-Windturbine etwa 15.000 Haushalte mit grünem Strom.

Ein Austausch der alten Anlagen gegen Zeitgenössische bedeutet zum einen, dass sich auf der gleichen Fläche ein Vielfaches an elektrischer Energie gewinnen ließe. Mehr noch: Selbst mit weniger Anlagen der neuesten Generation ließe sich ein signifikantes Mehr an Windenergie ernten. Auf der anderen Seite ist jeder Neubau ein teurer Kraftakt. Die gigantischen Dimensionen der 15-Megawatt-Turbinen bedeuten großen logistischen Aufwand – unter anderem Spezialschiffe, die die mehr als 100 Meter langen Rotorblätter in die Offshore-Parks bringen.

Die Installation der zukünftigen Anlagen zieht die nächste Herausforderung nach sich. „Parallel müssen Konverter-Plattformen errichtet werden, die ein Vielfaches der bisherigen Strommengen bis an das Festland übertragen müssen. In Planung sind hier aktuell Stationen, von denen jede einzelne eine Übertragungsleistung von zwei Gigawatt haben soll“, fasst der Professor die aktuellen Planungen zusammen.

Diese Planung beschäftigt unter anderem TenneT. Eine Tochter des Konzerns im Besitz des niederländischen Finanzministeriums betreibt im Nachbarland ein mehr als 10.000 Kilometer langes Stromnetz. Eine andere Tochter ist hierzulande verantwortlich für ein Netz mit einer Gesamtlänge von rund 13.500 Kilometern. Nun will und muss TenneT als verantwortlicher Netzbetreiber acht niederländische und sechs deutsche Zwei-GW-Konverter-Stationen in der Nordsee bauen lassen.

Allerdings sind auch die gegenwärtig genutzten Transportwege nicht für die Erfordernisse der Zukunft ausgelegt. Und weil Kamele nicht durch Nadelöhre passen, steht eine Neuverlegung von HVDC-Spezialkabeln an. Ist ‚Kabel‘ in technischer Hinsicht der richtige Begriff, erzeugt er hier vielleicht ein falsches Bild. „Kabel, die auf elektrische Spannungen von bis zu 525 Kilovolt ausgelegt sind, haben mit Isolation und Ummantelung schließlich Gesamtdurchmesser von etwa 160 Millimetern“, ordnet Keindorf die Dimensionen ein. Hunderte Kilometer solcher armdicken Kabel müssen zwischen den Konverter-Plattformen auf hoher See zu ihren Gegenstücken an Land verlegt werden.

Und dort wartet dann die nächste Herausforderung: Der Abtransport der um ein vielfaches größeren Strommengen. Die zukunftssichere Lösung ist seit mehr als zehn Jahren in Planung und hört auf den Namen SuedLink. Gemeinsam mit dem deutschen Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW will TenneT zwei Hochspannungstrassen durch die Republik legen. Die weitgehend parallel verlaufenden Leitungen, die auf eine Leistung von insgesamt bis zu vier Gigawatt ausgelegt sein werden, sollen elektrische Energie aus Windkraft über 700 Kilometer nach Süddeutschland transportieren – von Brunsbüttel ins württembergische Großgartach; von Wilster bis in das unterfränkische Bergrheinfeld.

Interessante Nebenwege

Als wäre die Agenda 2050 bis hierhin nicht herkulisch genug, bringt Keindorf auf einen weiteren Vektor in Spiel: grünen Wasserstoff „Insbesondere für den Güterverkehr und die Schwerindustrie ist dieser Energieträger ein Thema, das von den Akteuren sehr kontrovers diskutiert wird“, eröffnet Keindorf. „Schiffe und Flugzeuge, die Güter über lange Strecken transportieren, lassen sich nicht sinnvoll mit Akkus voller grünem Strom betreiben. Die Energiespeicher wären so schwer, dass sich das Gewicht negativ auf die Reichweite und Ladungsgröße auswirkte. Es sind alternative Konzepte für die Langstreckenmobilität gefragt. Aufgrund seiner vielfach höheren Energiedichte wäre grüner Wasserstoff eine solche Alternative.“

Zudem halten auch die Stahlbauer vorsichtig einen Zeh in den Wasserstoff. Konzerne spielen mit dem Gedanken, in der energieintensiven Stahlproduktion Hochöfen nicht mehr mit Koks, sondern mit grünem Wasserstoff zu befeuern. Nicht uneigennützig, wie der Professor aufzeigt: „Der staatlich vorgeschriebene CO2-Preis, der für das Freisetzen des Treibhausgases fällig wird, wird von Jahr zu Jahr immer weiter steigen. 2025 werden 55 Euro pro Tonne CO2 fällig und die machen sich beim Besitzer einer Ölheizung anders bemerkbar als in einem Unternehmen der Stahlerzeugung.“ Bei 1,8 Tonnen CO2 pro Tonne Rohstahl kommt man auf knapp 200 Euro als Emissionsabgabe. Es kann sein, dass zukünftig der Einsatz grünen Wasserstoffs wirtschaftlich attraktiver für die Großverbraucher wird.

Doch woher nehmen? „Der von den Windenergieanlagen erzeugte Strom würde auf dem Meer eingesetzt werden, um Meerwasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufzuspalten “, umreißt Keindorf das Elektrolyse-Verfahren. „Der so gewonnene grüne Wasserstoff würde dann verdichtet und in flüssiger Form mit Tankern abtransportiert oder gasförmig über Pipelines an Land geführt.“

Doch was sich so einfach anhört, ist voller Tücken. „Das natürliche Salz im Meerwasser ist ein Bestandteil im Medium, der bei der Elektrolyse an den Elektroden eine Chlorid-Korrosion verursacht“, dämpft der Wissenschaftler vorsichtig die Erwartungen. „Aber spezielle Beschichtungen der Elektroden könnten uns weiterhelfen.“ Zudem steht Wasserstoff aus grünem Strom aufgrund des niedrigen Wirkungsgrades in der Kritik: Etwa 30 bis 40 Prozent der Energie gehen verloren. Wenn eine Rückverstromung mittels einer Brennstoffzelle stattfinden soll, sinkt der Gesamtwirkungsgrad weiter. Und dann sind da noch die baulichen Herausforderungen. Einerseits die Elektrolyse-Anlagen für Salzwasser und andererseits die Häfen und Seewege, die für das Zusammenspiel mit den Wasserstofftankern weiter ausgebaut werden müssten. Das gilt im Übrigen auch für den Transport der Offshore-Anlagen.

Gut vorbereitet auf große Aufgaben

Doch trotz all dieser Herausforderungen und Widrigkeiten sind Dinge in Bewegung. TenneT hat die Aufträgefür sein Zwei-Gigawatt-Programm, den Transport und die Installation der 14 Konverter-Plattformen, an sogenannte EPCI-Partner vergeben. „Das sind Generalunternehmer, die schlüsselfertig liefern“, erklärt Keindorf, „die Engineering, das Entwickeln der Anlagen, Procurement, die Materialbeschaffung, Construction, die Fertigung, und schließlich die Installation übernehmen.“ Ein wenig wehmütig schiebt der Professor nach: „Die Aufträge gingen vorwiegend ins Ausland, wie zum Beispiel an Allseas, Dragados, Hitachi und Heerema Marine Contractors. Wir haben in Deutschland gegenwärtig und absehbar kein Unternehmen mehr, das als Generalunternehmer in dieser Größenordnung mitspielt. Nach dem Ende von MV Werften und Nordic Yards in Wismar, die immerhin zusammen mit Siemens die ersten Konverter-Stationen aufgestellt haben, gab es einen bei uns in Deutschland einen Fadenriss.“ 

Doch das bedeutet nicht, dass man hierzulande kein Stück vom Multi-Milliarden-Kuchen abbekäme. „Wir haben zwar niemanden der EPCI komplett abdeckt, aber unsere Werften sind gut in der Fertigung von großen Anlagen. Auch ist Siemens Energy bei einigen Projekten des 2-GW-Programms als Konsortialpartner im Boot.“ Und so ist Keindorf dann auch sehr optimistisch, was den Bedarf an Fachkräften und die Entwicklung der hiesigen maritimen Industrie angeht.

Die jetzt und künftig benötigten Fachkräfte für alle Bereiche des Gigaprojekts ‚Energiewende auf hoher See‘ bilden Keindorf und seine Kolleginnen und Kollegen an der FH Kiel aus. „Wir vermitteln unseren Studierenden die verschiedenen Formen von erneuerbaren Energien, die man im Offshore-Sektor nutzen könnte“, setzt Keindorf an. „Tatsächlich geht es auf dem Meer nicht nur um Energie aus Wind, sondern auch um Energie, die sich aus Wellen, Meeresströmung und Sonne gewinnen lässt.“

Auch Wasserstoff ist ein Thema an der Hochschule. An einem Demonstrationsprüfstand mit Schläuchen, Kabeln und Anzeigen erproben Studierende, wie Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff aufgespalten wird. Doch der Prüfstand ist nur der Anfang. Der Fachbereich Maschinenwesen will ein ganzes Wasserstoff-Labor aufbauen, um die Ingenieurinnen und Ingenieure der Zukunft noch besser auszubilden. „Im Schiffbau ist die Energiewende bei uns ebenfalls Thema“, führt Keindorf weiter aus. „Alles was draußen in Nord- und Ostsee verbaut wird, benötigt Installationsschiffe. Solche Spezialschiffe mitzuentwickeln, ist bei uns an der Hochschule ebenfalls ein Bestandteil der Ausbildung.“

Dass die Fachkräfte-Nachfrage aus der Wirtschaft nicht nur theoretisch da sein müsste, sondern tatsächlich vorhanden ist, zeigt sich einmal pro Semester an der Hochschule. Dann lädt der Offshore.Club Kiel Studierende und Interessierte zum Club-Abend. Neben Alumni, die aus ihrer Berufspraxis berichten, sprechen auch Industrievertreter über ihre Arbeit. Dabei liest sich die Liste der Vortragenden wie ein Who-is-Who der Offshore-Branche. „TenneT, RWE Offshore Wind, Tractebel Overdick, Seaway7, EnBW, Siemens Energy, Menck und viele andere kommen gerne zu uns, um sich und ihre Unternehmen den Ingenieurinnen und Ingenieuren von morgen vorzustellen“, freut sich der Professor über das Interesse an den Studierenden.

Dass der Ausbau der Windkraft auf hoher See weiter voranschreiten soll, ist ausgemacht. Die Umsetzung des komplexen Unterfangens wird ganz Deutschland über Jahrzehnte bewegen. Und auch wenn alles anstrengend, teuer und kompliziert ist – am Ende ist das Gigaprojekt ein riesiger Schritt hin zu unabhängiger klimaneutraler Energieversorgung.

Dieser Artikel erschien in der 30. Ausgabe unseres Campusmagazins viel.  

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